Sehr geehrte Damen und Herren, am heutigen Volkstrauertag versammeln wir uns wie jedes Jahr am Ehrenfriedhof und am Ehrenmal, um der Opfer der beiden Weltkriege zu gedenken. Der Zweite Weltkrieg endete vor 70 Jahren. Die Menschen, die hier begraben liegen, wären sicherlich lieber geflüchtet als hier zu sterben.

Überhaupt wären im Zweiten Weltkrieg und in der Zeit danach bestimmt viele Deutsche gern geflohen – doch wohin hätte man fliehen sollen? Man wurde als Deutscher damals nicht mit offenen Armen in der Welt empfangen und wir wissen alle, warum. Gleichzeitig kamen 12 Millionen Flüchtlinge ins damalige Deutschland, das durch den Krieg am Boden lag. – Manche mögen anführen, es seien ja Deutsche bzw. Christen gewesen, vom gleichen Kulturkreis und mit derselben Sprache. Nein: es waren MENSCHEN.

Und auch heute sind es wieder zahlreiche MENSCHEN, die aus ihren Heimatländern fliehen, weil die Zustände für sie unerträglich sind. Der aktuelle Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland weckt in vielen Menschen verschiedene Ängste und Sorgen. Die Kulturen prallen aufeinander, so heißt es oft.

Seltsam nur, dass wir das hier so empfinden – denn wenn wir reisen, kann das Ziel oft nicht exotisch genug sein. Dann lieben wir fremde Kulturen, Sprachen, ferne Länder, die landestypische Küche, die Bräuche und die Musik. Dort werden wir von Ortskundigen willkommen geheißen und durch die Gegend geführt. Wir sind fasziniert von der Architektur einer Moschee, den Gerüchen eines Bazars, der Dankbarkeit von Kindern über ein Bonbon, der Stille der Wüste – und wir erzählen zuhause begeistert davon.

Gleichzeitig erschrecken wir über die Zustände, die in anderen Ländern herrschen – Armut und Elend, schlechte medizinische Versorgung, Bestechung, schwache Wirtschaft und Infrastruktur, Ungerechtigkeit, Folter, Todesstrafe – und wir schweigen betreten und schauen weg.

Wenn nun Menschen aus fernen Ländern zu uns kommen, die diese Not, dieses Elend selbst erfahren haben – dann sollten wir sie willkommen heißen. Dann sollten wir ihnen unsere Kultur und Sprache vermitteln. Und wir sollten uns für deren Kultur und Sprache interessieren, wie wir es auf einer Reise täten, denn das ist für uns eine Bereicherung und erweitert unseren Horizont.

Natürlich sind die Flüchtlinge nicht im Urlaub hier. Sie sind nicht ohne Not geflohen. Niemand flüchtet gerne. Man lässt seine Heimat zurück, seine Familie, Eltern, Geschwister, Nachbarn und gute Freunde, seine Sicherheit, sein soziales Umfeld. Niemand gibt „ohne Not“ seine Sprache, seine Kultur, seine Religion, seine Identität auf.

Er müsste uns aber auch ein Stück weit stolz machen – diese Menschen möchten zu uns kommen, weil sie hier die Hoffnung auf ein besseres Leben haben, auf ein Leben in Frieden, ohne ständige Angst, ohne Bedrohung von Leib und Leben, durch Krieg und Verfolgung, ohne Hunger und Kälte.

Nun wäre für uns sicherlich vieles einfacher, wenn der Krieg dort bleiben würde, wo er ist. Das ist ein frommer Wunsch. Immer wieder greifen Terroristen genau die Stellen an, die uns lieb und teuer sind. Verbreiten Angst, Chaos und Verunsicherung, säen Hass, töten Menschen. Wahllos. Unbarmherzig. Hierzu möchte ich kurz aus einem Artikel von Stern-Chefredakteur Philipp Jessen vom 14. November 2015 zitieren.

„…wir können uns den Blick auf die grausame Realität nicht ersparen. Wir müssen ihr in die Augen schauen. Denn dieser feige Anschlag galt uns allen. Unserer Welt, unseren Werten, unserer Freiheit. … Die feigen Attentäter haben sich die Anschlagsorte ganz genau ausgesucht. Niemand soll sich mehr sicher fühlen. … Jeder hat Angst. Und das auch zu recht. Trotzdem müssen wir weiterleben. Weiter Menschen willkommen heißen. Weiter mutig sein. Weiter zu Konzerten, ins Restaurant und ins Einkaufszentrum gehen. Wir müssen weiter Menschen bleiben. Sonst haben die gewonnen – und wir alles verloren.“

Wir sind alle aufgerufen, eine klare Antwort zu geben. So schrecklich sich die Fratze von Terror und Gewalt auch zeigt, wir dürfen ihr nicht mit Gegengewalt, mit Hass und Hartherzigkeit begegnen. Denn genau das möchten die Terroristen erreichen, um unser Leben in Freiheit, Wohlstand und Frieden zu zerstören. Doch dieses Leben haben wir nicht durch Abschottung, Hartherzigkeit und Krieg erreicht. Es war viel Arbeit und Fleiß mit dabei, aber auch viel Glück. Es ist uns gelungen, Werte zu schaffen – materielle Werte wie Wohlstand, aber auch ideelle Werte wie Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit.

Heute sehen viele unsere „Werte“ bedroht durch die vielen fremden Menschen und Einflüsse. Natürlich können wir von den Menschen, die zu uns kommen, verlangen, dass sie „unsere Werte“ respektieren – aber zuallererst sollten wir uns selbst fragen, ob wir unsere eigenen Werte wirklich leben und weiter daran arbeiten. Denn viele kommen genau wegen unseres Lebens in Freiheit, Wohlstand und Frieden zu uns.

Wir dürfen unsere Werte nicht opfern, denn dann spielen wir den Terroristen in die Hände. Gerade in schwierigen Situationen zeigt sich, wie zivilisiert, wie menschlich wir tatsächlich sind. Erst wenn wir aufhören, zwischen „WIR“ (Deutschen, Europäer) und „IHR“ (Flüchtlinge, Fremde) zu unterscheiden, zeigen wir der Welt, dass WIR ALLE Menschen sind. Und dann hat der Frieden eine Chance.

Fotos zum Volkstrauertag finden Sie hier.